Zwischen Gestern und Heute

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Zwischen Gestern und Heute

von Gerhard Krosien

In einem anderen Land

Gerettet! 1945 am 7. März: Die 74jährige Großmutter, ihre 30jährige unverheiratete Tochter, ihre 35jährige Schwiegertochter mit vier Kindern im Alter zwischen elf und drei Jahren. Mit dem, was sie gerade auf dem Leib tragen. Kein Gepäck - außer einer abgegriffenen Leinentasche mit wichtigen Dokumenten um den Hals der Mutter. Und wohin? In das kleine niedersächsische Städtchen Bremervörde am Rande des Teufelsmoores, das von der Kriegsfurie unberührt zu sein scheint, von dem niemand von ihnen bis dahin etwas gehört oder gewusst hatte. In karger, ungastlich wirkender Umgebung, in rauher Witterung, mit ungewohnt fremdartig klingendem Dialekt und abweisenden Menschen. Die die ungebeten in "ihre Welt" strömenden deutschen Flüchtlinge aus dem Osten vielfach gerade heraus als "Flüchtlingspack" bezeichnen und denen sie nun Obhut gewähren und von ihrem Bisschen auch noch was abgeben sollen. Der Familienvater ist nicht dabei. Er ist irgendwo an der Ostfront. Wo? Nicht bekannt. Dennoch: Glück gehabt, viel, viel Glück bei der Flucht! Andere wurden von der Roten Armee auf der Flucht eingeholt, gequält, gedemütigt, ermordet, zur Zwangsarbeit nach Sibirien verschleppt. Wieder anderen gelang die Flucht in andere Länder Europas, nach Kanada, in die USA, nach Mittel- und Südamerika, nach Afrika oder nach Australien. So in alle Welt zerstreut gedachten diese Menschen ein neues Leben zu beginnen - auch wenn es in der Fremde ist.

Seit Ende Juli 1944 ist diese Familie nämlich - in Etappen - aus ihrer angestammten Heimat, dem Memelland, vor der mordend und zerstörend heranrückenden rachelüsternen Roten Armee - vor dem Russen, wie die Menschen voller Angst zu sagen pflegen - auf der Flucht. Zuerst - wie jemand sie daheim zu beruhigen bemüht war: „nur vorübergehend“ - nach Osterode in Ostpreußen, dann weiter nach Pommern – auf dem Land nahe der Stadt Plathe - und nun hierher. Jetzt soll Schluss sein mit der Flieherei, mit dem allgemeinen Durcheinander, mit Angst und Not!. Hoffentlich! Gott sei Dank, sie alle sind jetzt offenbar in Sicherheit! Und das ist die Hauptsache!

In Sicherheit? Der Krieg ist aber noch nicht vorüber! Tagtäglich Fliegeralarm – auch hier! Tagtäglich - und das oft gleich mehrmals - diese beiden teuflischen britischen Jagdflugzeuge am Himmel über der Stadt. Sie nehmen mit ihren Bordwaffen alles aufs Korn, was sich da unten am Boden bewegt! Nicht allein Menschen! Auch Tiere, die sich jetzt im Frühjahr 1945 ahnungslos irgendwo draußen, zum Beispiel auf der Weide, aufhalten! Ist es Mordlust bei den Piloten? Oder wollen sie nur zeigen, wer in der Luft jetzt das Sagen hat? Oder machen sie sich bloß einen "Spaß"? Einen bluternsten Spaß! Blanker Terror ist's! Die Menschen sind jedenfalls auf der Hut. Sie suchen sich jedes Mal geschwind ein Versteck unter Bäumen, Büschen und in Gräben, wenn sie es noch schaffen. Tiere bleiben meist auf der Strecke, weil sie die von böswilligen Menschen drohende Gefahr nicht erkennen und rechtzeitig für ihre Sicherheit sorgen können.

Das Leben „danach"

Dann das Kriegsende am 8. Mai 1945. Die "Tommies" feiern auch hier - abends mit Leuchtraketen und ohrenbetäubender Ballerei - ihren Sieg über Hitlerdeutschland. Aber in was für einem Szenarium rundum! Für viele Jahre!

Hunger! Überall ist wenig zu essen da, manchmal garnichts. Und das bisschen Vorhandene auch noch rationiert! Lebensmittelkarten.
Armut! Weil kaum einer in der Bevölkerung etwas hat. Nicht die Einheimischen, weil die hier nie reich waren und während der Kriegszeit noch mehr verarmt sind. Nicht die Ausgebombten, deren Habe im Bombenhagel zerstört wurde. Schon garnicht die Flüchtlinge, die all ihr Hab und Gut in ihrer bisherigen Heimat zurücklassen mussten oder es während ihrer Flucht verloren haben.
Wohnungsnot! Fast alle Häuser in den Städten liegen in Trümmern, sind meist unbewohnbar. Die Einheimischen, die das Glück hatten, dass ihre Häuser nicht den Bomben zum Opfer fielen, müssen jetzt oft zusammenrücken, um für die Ausgebombten, Flüchtlinge und Evakuierten ein Unterkommen zu ermöglichen, eine noch so notdürftige Bleibe. Das gibt oft böses Blut!
Arbeitslosigkeit! Weil kaum ein Betrieb arbeitet, wenn es Betriebe in dieser überwiegend landwirtschaftlich geprägten Gegend überhaupt jemals gegeben hat.
Inflation! Für Reichsmark ist kaum etwas zu kaufen. Sie ist quasi wertlos. Tauschhandel überall, mit allem und jedem, Schwarzmarkt. Wer nichts zu tauschen hat, ist dumm dran! Es gibt zu der Zeit viele Dumme, meistens sind´s die Flüchtlinge, die kaum was für den Schwarzmarkt besitzen.
Suche! Nach Lebenspartnern, nach Kindern, nach Eltern, nach anderen Verwandten, nach Freunden, nach Bekannten, nach Nachbarn.
Rechtlosigkeit! Die Sieger bestimmen, was Recht ist. Auch für einige, die bis dahin rechtlos waren - zum Beispiel KZ-Insassen -, ist Rachsucht nun oftmals Trumpf, oft an Unschuldigen! Größerer oder kleinerer Mundraub erscheint vielen legal. Diebstahl wird vielfach nicht als Unrecht angesehen! Genommen wird doch eh nur von denen, die's scheinbar immer noch haben. Die Armen schonen sich. Sie wissen: Von ihnen ist ja nichts zu holen.
Würdelosigkeit! Kinder betteln offen auf der Straße. Erwachsene balgen sich um von alliierten Soldaten fortgeworfene Zigarettenstummel. Mädchen prostituieren sich für Schokolade oder Zigaretten bei den damals für sie „freigiebigen“ Besatzungssoldaten.
Volle Kirchen! Die Menschen versprechen sich nicht allein seelischen Trost und Rat von hier, sie hoffen auch auf materielle Hilfe von dieser Seite. Mehr als einmal müssen sie sich von der Kanzel allerdings auch Meldungen über Kriegstote oder über Kriegsfolgetote anhören, nicht nur Strafpredigten über "menschliche Schwäche" und die „Sünden der Deutschen“ in der jüngsten Vergangenheit!

Not überall! Not als Alltag! Durcheinander!

Not macht erfinderisch

Genau in dieser Situation macht viele die Not erfinderisch. Denn tiefer als jetzt kann es nicht mehr gehen! Da entdeckt mancher, wie handwerklich geschickt er in seiner Jugend einst war. Werken in der Schule und Basteln daheim doch seine Lieblings-beschäftigung! Das ging immer doch gut von der Hand! So lange man sich erinnern kann, war ja aus vielem was zu machen. Schließlich hat Handwerk bekanntlich goldenen Boden. Immer! Und rosig waren die Zeiten für die Menschen hier und oft auch in der früheren Heimat noch nie gewesen, nur zu helfen wussten sie sich allezeit. Also, jetzt kein Grund zur Panik! In die Hände gespuckt – und los!

Aus Stoffresten, aus aufgetrennten Lastenfallschirmen der deutschen Wehrmacht, aus gesammelten Holzstücken, aus allen möglichen anderen Materialien fing so mancher an, Tag für Tag, Nacht für Nacht etwas anzufertigen: bunte Knüpftaschen, beliebte Tierfiguren, kuschelige Puppen für Kinder und viele andere - manchmal auch nutzlose - Dinge zu machen.

Und dann zog man los zum Tauschhandel. Meist aufs „nahrhafte“ Land. Manchmal mit Erfolg, manchmal ohne. Bloß etwas zu essen zu bekommen, das war wichtig, am liebsten ein Stückchen Speck, ein paar Eier, etwas Butter, ein paar Pfund Kartoffeln oder andere Naturalien. So konnten viele in der schweren Nachkriegszeit überleben. Und darum ging es in erster Linie!

Jede Hand wird gebraucht

Nach und nach kehrten auch die Familienväter und Söhne zerlumpt, ausgezehrt und innerlich gebrochen aus Kriegsgefangenschaft zu ihren Familien heim – für viele in fremder oder verwüsteter Umgebung. Mit ihnen hatte so manche Familie nun zwar einen Esser mehr, aber auch einen, der jetzt fürs Überleben mitsorgen konnte. Hatten doch alle Familienmitglieder ihre ganz bestimmte Aufgabe, und zwar entsprechend ihrem jeweiligen Leistungsvermögen: Die einen sammelten im Wald Äste, andere stachen und schichteten im Moor Torf für den Winter, andere gingen auf den abgeernteten Feldern Kornähren oder Kartoffeln "stoppeln", wieder andere standen vom ersten Morgengrauen an stundenlang Schlange vor Läden oder wechselten sich dabei ab, um ein paar Heringe, etwas Gemüse, Wurstbrühe oder bloß etwas Magermilch oder sonst Essbares zu bekommen. Im Herbst sammelten einige von ihnen Beeren und Pilze, andere "besorgten" dies oder das, die Frauen nähten aus Stoffresten oder strickten etwas für die Kinder. Alle hatten damals alle Hände voll zu tun!

Handel als Ausweg

An eine geregelte Arbeit für den Vater der Flüchtlingsfamilie war mangels vorhandener Arbeitsplätze zu jener Zeit nicht zu denken, schon garnicht im erlernten Lebensberuf. Aber mit dem Tauschen, das ging so einigermaßen! Damit ging es oft sogar besser als erwartet, vor allem wenn jemand wertvolle „Mangelware“, zum Beispiel Stahlwaren, in seinem „Sortiment“ hatte. Im Bauernland Niedersachsen geradezu eine Kostbarkeit! Mit solch begehrter "Handelsware" ging es einigermaßen gut zu tauschen. Denn viele Bauern - mit denen hatte man es in jenen Jahren ja vorwiegend im Sinn - waren scharf auf Stahlwaren jeder Art. Konnten sie sie doch im regulären Handel schon lange nicht mehr - schon gar nicht für Reichsmark - bekommen!

Hilfe zur Selbsthilfe

Viele Alt- und Neu-Bremervörder hatten Verwandte in Amerika. Diese erbarmten sich der Notleidenden im daniederliegenden Nachkriegsdeutschland. Bald kamen Pakete mit Altkleidern an, die sie dort bei der Bevölkerung eingesammelt hatten. Alles wurde hier dann so abgeändert, dass es irgendeinem passte. Einige vergaßen bei all dem ihnen zuteilwerdenden Segen andere nicht, denen es noch schlechter ging und die keine Verwandten in Amerika hatten. Sie gaben denen einfach etwas "von ihrem Reichtum" ab, besonders an notleidende Kinder. Denn Arme wissen aus eigener Erfahrung, wie sehr Armut drückt! Praktizierte Solidarität!

So manche Tante in Amerika erinnerte sich wohl an die eigenen schweren Zeiten und den uneigennützigen Pioniergeist ihrer Vorfahren aus längst vergangener Zeit - und handelte entsprechend: Da kam dann eines Tages zum Beispiel eine große Holzkiste voll Sämereien an. Die Bedachten staunten nicht schlecht, als sie statt der erwarteten Altkleider - wie bisher gewohnt - nun sowas sahen! Die meisten erkannten aber rasch die Absicht der Tante: Hilfe zur Selbsthilfe sollte das sein! Starthilfe wenigstens zur Ernährungssicherung! Noch mehr staunten alle aber, als sie dann im Spätsommer und im Herbst das Ergebnis ihrer zielstrebig durchgeführten gärtnerischen Betätigung sahen: Rot blühende Stangenbohnen, lange, gelbe Erbsenschoten an übermannshohem Rankengesträuch, kohlkopfgroße Salatköpfe, riesig lange Schlangengurken, noch nie gesehene, mehrfarbige, übergroße Kürbisse! Sämereien wurden weitergegeben. So mancher Kleingärtner nutzte damals das neuartige Saatgut der nun im Nachkriegsdeutschland erfolgreich eingebürgerten Gartenfrüchte. Für jeden von ihnen eine echte Starthilfe!

Zeitenwende

1948 wurde dann alles viel besser! Mit der Währungsreform hatten die Menschen - wenn auch nur wenig, so doch wieder wertvolles - Geld in ihren Händen. Und es bestand überall großer Nachholbedarf. Es ging aufwärts mit den Menschen, mit der Wirtschaft, mit Deutschland, zwar langsam, aber immerhin aufwärts! Vieles brauchten die Menschen sogleich, weil sie es lange Zeit nicht hatten bekommen können. Und sie kauften das daher sogleich. Anderes konnten sie sich erst mit steigendem Wohlstand leisten. Das kauften sie dann später.

Ja, es ging aufwärts! Von einer Stunde Null damals, von Unrast, Not, Elend, Furcht und bloßem Überlebenskampf hin zu Zufriedenheit und persönlichem Wohlstand heute. Allerdings braucht gut´ Ding Weil´! Nahezu zwei Jahrzehnte hat das gedauert! Turbulente, entbehrungsreiche Nachkriegszeit, lückenhafter, doch intensiver Schulbesuch unter Regie alter, oft vom Mitläufer eines verbrecherischen, diktatorischen Systems zum „immer schon gewesenen echten Demokraten“ gewendeten Lehrer, Berufsleben in einem zuvor nicht geplanten, damals mit viel Glück „ergatterten“, später jedoch einigermaßen zufriedenstellenden Beruf, Familiengründung, Integration in die neue Heimat mit einer weitgehend persönlich gestalteten Lebensweise! So oder ähnlich ist der Lebensweg eines Flüchtlingskindes von damals bis heute verlaufen. Dabei kann mancher noch sagen: „Wir hatten sehr viel Glück. Ein Schutzengel hat immer und überall seine Hand über uns gehalten. Viele hatten nicht so viel Glück und mussten Schreckliches erleiden.“

Das Leben der Erwachsenen

Dabei hatten es die erwachsenen Flüchtlinge seinerzeit viel schwerer als ihre Kinder. Sie mussten außer für ihr eigenes Überleben auch für das ihrer „Brut“, häufig genug auch für das der mitgeflüchteten Vorfahren und anderer Familiemangehöriger sorgen. Sie bekamen oft genug die ablehnende Haltung ihrer neuen Umgebung unmittelbar zu spüren. Sie träumten noch lange von der Hoffnung, eines Tages in ihre angestammte Heimat zurück zu kommen. Sie lebten neben ihrem schweren Daseinskampf in tiefer Verbundenheit mit ihrer verlorenen Heimat. Sie holten sich jede nur denkbare Information darüber, wie es wohl „zu Hause“ ohne sie liefe, aus allen denkbaren Quellen, zum Beispiel besonders aus ihrer gewohnten Heimatzeitung, dem Memeler Dampfboot. Sie besuchten Landsleute oder ließen sich von denen besuchen. Sie trafen sich in Gruppen von Landsleuten und pflegten das heimatliche Brauchtum in Wort, Bild und Tat. Sogar der Memeler Hochflieger, die glücklich gerettete heimische Taubenrasse, fand von Bremervörde aus viele neue Freunde in der westlichen Welt – und lebt somit heute in der Fremde weiter!

Das Leben der Flüchtlingskinder

Die Kinder dagegen hatten es damals leichter! Für sie wurde ja gesorgt. Sie fanden rasch Freunde unter der heimischen Kinderschar. Sie lernten bald so zu sprechen, wie diese sprachen. Oft konnten sie besser Plattdeutsch oder Mundart sprechen als die „Einheimischen“ selber! Sie waren bald integriert – und blieben es! Nur selten dachten sie an die verlorene Heimat. Sie hatten bis zur Flucht im Jahr 1944 ja meistens bloß kurze Zeit dort gelebt, die Bindungen an sie waren daher noch nicht gefestigt. Sie kannten vieles nur aus den Erzählungen der Großeltern, Eltern, sonstigen Verwandten und Bekannten. Ihre Eltern nahmen sie häufig nicht mit zu ihren „Heimattreffen“, „weil ihr das ja doch noch nicht versteht“. Auf sie wirkte die neue Heimat prägend. So ist es heute nicht verwunderlich, wenn viele junge memellandstämmige Menschen, oft schon in der dritten Generation nach der Flucht, kaum etwas über die Herkunft ihrer Vorfahren wissen – oder gar wissen wollen. Sie wurden ja in einer friedlicheren Zeit in neuer Umgebung geboren und haben sich ihren eigenen Lebenskreis gebildet. Überwiegend stammen ihre Lebenspartner aus der neuen Heimat. Ihre Nachkommen wurden hier geboren. Dennoch kennen sie oft genug noch vereinzelte memelländische Sitten, Bräuche, Gerichte und memelländische „Spezialausdrücke“, die sie doch von ihren Familienmitgliedern mitbekommen haben und die in ihrer jetzigen Umgebung zumindest andersartig sind. Ein kleiner, aber besonders wertvoller Schatz! Ein Schatz, der aber Gefahr läuft, durch weiteren Zeitablauf, Wegfall der Erlebnisgeneration und Verlust des angestammten Anwendungsgebiets eines Tages aus dem menschlichen Leben zu verschwinden und über den nur noch in Büchern etwas zu erfahren sein wird. Darum sollte so viel wie möglich über die Kultur des Memellandes - wie grundsätzlich über die aller ehemals deutschen Ostgebiete! – dokumentiert werden. Zu viel ist nämlich schon unwiederbringlich verloren gegangen. Denn ein Volk braucht seine historische Vergangenheit, wenn es seine Zukunft meistern will! Es ist heute müßig zu fragen, woran es gelegen haben könnte, dass junge Deutsche von heute derart wenig Anteil nehmen an der eigenen Historie. Wichtig ist deshalb, nach geeigneten Wegen zu suchen, die Sensibilität gerade bei dieser Gruppe zu wecken – wer immer das vermag.


Und wie sieht´s heute aus?

Im Laufe der Zeit sind im Vergleich mit den Verhältnissen im Jahr 1945 viele neue, damals teilweise kaum vorstellbare und oft aus dem steigenden Wohlstand geborene Probleme aufgekommen, zum Beispiel zerstörerische Rauschgiftsucht, brutale Kriminalität, soziale Ungerechtigkeit, „Bauernsterben“ auf breiter Ebene, Abtreibungsprobleme und überhaupt die Stellung der Frauen in unserer Gesellschaft, Aussteigermentalität gerade bei vielen Leistungsfähigen, oft ungerechtfertigter Fremden- und Ausländerhass, weltweit hohe Kindersterblichkeit, rücksichtsloser Egoismus, bewusste Meinungsmanipulation Besserwissender, bedenkenlose Umweltsünden, Gesetzesuntreue auf vielen Gebieten, atomare Sicherheitsrisiken, ethnische „Säuberungen“ - das heißt neue Vertreibungen, neues Verbrechen, neues Unrecht -, menschenverachtender Terrorismus, Naturkatastrophen und anderes mehr.

Einige Problembereiche, die damals - besonders die Flüchtlinge - sehr gedrückt haben, zum Beispiel der ständige Überlebenskampf, sind inzwischen für viele aber auch weggefallen oder haben sich mit steigendem Wohlstand abgeschwächt. Teilweise, wie beispielsweise bei der derzeitigen Wohnungsnot oder bei der Arbeitslosigkeit, sind bei dem allgemein herrschenden Überfluss in unserem Land heute ganz neue Gründe maßgebend.

Im Laufe der Jahre wurden in Deutschland günstige Rahmenbedingungen sowie Hilfen und Hilfsmittel geschaffen. Für viele ist ein Ausruhen auf der vielgerühmten „sozialen Hängematte“ leider zur Gewohnheit geworden. Kaum jemand denkt noch an die schwierige Nachkriegszeit und den mühevollen, aber erfolgreichen Weg unseres Vaterlandes seit der Stunde Null zurück. Viele Flüchtlinge, ihre Lebenspartner von anderswoher, ihre Kinder, Freunde oder Bekannten, neuerdings auch Menschen, die nur neugierig sind auf ihnen bislang unbekannte Landstriche, besuchen ihre frühere Heimat. Sie schließen sogar oft ehrliche Freundschaft mit den dort jetzt Lebenden. Jetzt - oftmals erst durch einen solchen Besuch - lernen viele „Heimwehtouristen“ ihre neue Heimat zu schätzen, in der sie meist schon viel länger leben, als sie es in ihrer Geburtsheimat getan haben. Sie verstehen mit Sicherheit am besten, was Heimat bedeutet und dass für die Jetzigen ihre frühere Heimat nach so langer Zeit ebenfalls zur Heimat geworden ist. Die Flüchtlinge von einst wissen einerseits, dass ihre Erinnerung an „zu Hause“ ihnen allein gehört! Sie können andererseits dennoch etwas innig lieben - nämlich die Heimat -, die sie und die Jetzigen gemeinsam haben. Ihre jetzigen Lebensverhältnisse ermöglichen es ihnen sogar, in ihrer früheren Heimat humanitäre Hilfe zu leisten. Sie betätigen sich so als die geeignetsten Botschafter Deutschlands, als die richtigen Brückenbauer in einem zusammenwachsenden Europa. Wer hätte das irgendwann einmal gedacht?